Vorweg die Falle aller Autoren, die sich mit sich und ihren Abgründen auseinandersetzen: Endo Anaconda sagte über das Stück, es sei nicht autobiographisch, aber authentisch. Irgendwer – ich glaub es war Burroughs – brachte die Bemerkung, von seinem eigenen Schaffen sei gleichzeitig absolut jedes Wort und überhaupt kein Wort autobiographisch. Deutsch und deutlich: Für Menschen, die die Balance zwischen den Abgründen von (Drogen-)Rausch, Autoexorzismus und Psychoanalyse (die teilweise in einen exhibitionistischen Seelenstriptease ausartet) ertragen, ist das Stück ein absolutes Euphorikum. Für alle anderen gibt’s «Was ihr wollt». Ein Besuch im Luzerner Theater lohnt sich allerdings schon alleine wegen der schauspielerischen Leistung der Akteure – ein jeder von ihnen spielt mindestens drei Figuren und das mit Bravour! Die Inszenierung ist übrigens von Hannes Rudolph, der im UG bereits mit Palmetshofers «Hamlet» und Schillers «Wallenstein» brillierte. Das modulable Bühnenbild ist von Tobias Schunck.
Endo Anaconda hat jedoch sowohl als Sänger wie auch als Dramatiker dasselbe Problem: Wenn das Publikum die rohe Krassheit nicht mehr aushält, interpretiert es diese als Humor. Zurück bleibt der traurige Clown, der im Fensterkreuz hängt und weint. Wie beim sexuellen Missbrauch des jungen Hasengrubers durch die bigotte Religionslehrerin Loabetseder, an deren Körper der Bub zeigen muss, wie genau er mit seinem Madl gesündigt hat … «Ja lachet nume!»
«Das Leben ist nur im Rauschzustand erträglich. Im Alkoholrausch, im Liebesrausch, im religiösen Rausch…», stellt der französische Schriftsteller Michel Tournier nüchtern fest – und der Rausch wird von Endo gebührend zelebriert. Ob in der Nachstellung der legendären Trainspottingszene, wo der Herr Doktor Paracelsus (Hans-Caspar Gattiker) dem gehäuteten Hasen Alter Egon (Jörg Dathe) – der als Symbol von Endos Traumata im postfaschistischen, von verkleideten Römern moralisch dominierten Kärnten herhalten muss und wie nebenbei noch einen fantastischen Slam-Auftritt hinschmeisst (das wäre ein Sieg gewesen, auf welcher Bühne auch immer) – einen Schuss setzt, der im Fernsehen am Bühnenrand, wo sonst ein Hamsterrad monoton seine Runden dreht, oben rechts ein Schweizerkreuz im Bildrand, höchstens unterbrochen von einigen thematisch kongruierenden Sequenzen oder dem Testbild, als Nahaufnahme gezeigt wird. Dann wird selbstverständlich Lou Reeds «Perfect Day» gemurmelt, zugedröhnt, mit drei Stimmen, und die beengende Hinterwand des Zimmers, in dem Gegenwart und Vergangenheit derweilen parallel stattgefunden haben, verschwindet. Ein Herd, eine Baumhütte und eine Bergkette erscheinen. Der «Perfect Day» versinkt im Abendrot aus österreichischem Heimatschmalz. Harte Schnitte, wirre Collagen. Das ist das Leben.
In der Gefahr mich jetzt dem Prügel von vielen auszusetzen, muss ich ihn doch bringen: den Vergleich mit Pink Floyds «The Wall». Es beginnt und endet zwar verschieden – im Stück wird der alternde Jungdramatiker Hasengruber von seiner Frau verlassen, als sie gemeinsam eine neue Wohnug beziehen, bei «The Wall» ist Pink zu Beginn schon alleine. Das Pink-Floyd-Meisterstück findet ein einigermassen versöhnliches Ende … gut Endos eigentlich auch, aber erst nachdem sich jemand in die Luft gejagt hat und eine weiterer Jemand in Sibirien erfroren ist. Dazwischen surreale Trips in die Vergangenheit mit und ohne Hilfe obskurer Chemikalien – Hamster werden auf den Mond geschossen, sadistische Lehrer, die nichtmal psychopathische Ehepartner haben, zu denen sie abends heimkehren können, ein ominöser Winnetou taucht auf, in österreichischer Ledertracht und befiedertem Haupt, der Hühnerfickende Winnetou (nach Arenas starb der Gockel am nächsten Morgen vor Scham).
Dies alles läuft parallel zum deprimierendem Ist-Zustand: Hasengruber alleine in seiner Wohnung, der sich mit Bünzlis (Stimme aus dem Off, Endo Anaconda), dem desaströsen Spediteur Schaller und sich selbst rumschlagen muss. Dazwischen immer wieder Songs, derer Komponist und Einübungshelfer niemand geringerer als Schifer Schafer ist. Beim musikalisch-lyrischen Höhepunkt «Chlyne Tod», von dem Endo sagt, es sei «einfach mal ein gescheiter Song übers Ficken, der nicht ordinär ist» und wohl genau das symbolisieren soll, diesmal zwischen zwei Menschen, denn Justine ist bereits anwesend – jeder Gedanke, der zum göttlichen Marquis drifte sei «absoluter Schwachsinn» – ist es die Justine aus dem gleichnamigen Song? – werden Feuerwerke der Gefühle in jegliche Richtungen geschossen.
«Oh wie unsre Herzen schmerzen, wenn sie mit den Nerzen scherzen», sang einst Kreisler. Hasengrubers hört ehrlich gesagt gerade auf weh zu tun, als Juliette (Samia von Arx), die Venus im Pelz, seine Wohnung betritt. Sie will ihm einen von Spediteur Schaller gelieferten Ordner zurück bringen. Die Beiden trinken zusammen Bloody Mary, quatschen und ficken, bis die Mutter klingelt. Anschliessend hat Hasengruber eine Herzattacke. Wie es scheint, jagt er mit Gas auch noch das ganze Haus in die Luft und Justine erfriert wie von dubiosen Mächten geplant in Sibirien, jedenfalls treffen sie sich wieder im Limbo, einer Baumhütte, die jetzt als Zimmer im Zimmer fungiert.
«Was ist eigentlich mit deinem Stück passiert?»
«Es wurde zerfetzt.»
«Vom Feuillton?»
«Nein, von der Explosion.»
Vorhang.
von Pablo Haller auf http://www.kulturteil.ch