„…kommt ein Mann mit einem Baseballschläger daher und fickt dich in den Arsch.“ Nicht immer so pessimistisch geht es in der Uraufführung von Lisa Danulats „Uns kriegt ihr nicht!“ im Mainzer TiC zu.
„Das Haus der Jeanne Calment„, so lautet der Untertitel des Stücks. Jeanne Calment ist offiziell der älteste Mensch aller Zeiten, sie wurde 122 Jahre alt. Calment, die erst mit 119 Jahren das Rauchen aufgab, überlebte ihren eigenen Enkel um 44 Jahre und starb schließlich 1997 in einem französischen Altenheim, das bald darauf nach ihr benannt wurde. Bemerkenswert, und irgendwie so absurd, dass ihr eigentlich ein eigenes Theaterstück zustehen würde. Um sie geht es aber überhaupt nicht in „Uns kriegt ihr nicht!“, sie hat höchstens eine Nebenrolle.
Der Plot lässt sich leicht in einem Satz zusammenfassen: Eine junge Pflegerin in einem Altenheim schnappt sich drei Senioren und fährt mit ihnen in einem alten Panzer durch die Republik und ihre Lebensgeschichten. Dabei ist es vor allem die Fremdartigkeit zwischen der Zwanzigerin und den Großeltern, die ins Auge sticht. Obwohl nur eine Generation zwischen ihnen liegt, scheint es, als würden hier Personen aus zwei verschiedenen Galaxien interagieren. Jeanne Calment muss während ihrer 122 Jahre fünf, sechs, sieben Generationen erlebt haben, die sich alle untereinander nicht verstehen konnten, ein gigantisches Spektakel demographischen Missverständnisses. Weiter, man überlege sich mal, ein Jugendlicher, in den 1980ern geboren, führe eine Unterhaltung mit Calment, die aus den 1880ern stammt. Schier unvorstellbar, wahrscheinlich sprächen sie nicht einmal die gleiche Sprache. Danulat aber zeigt uns auf eine humorvolle und einfühlsame Art und Weise, dass diese offenkundige Andersartigkeit zwischen den Generationen nur eine oberflächliche ist, dass wir in unseren Bedürfnissen, unserem inneren Streben vielmehr alle gleich sind, ob aus dem 20. oder dem 19. oder dem 3. Jahrhundert.
Fans von sprechenden Namen dürfen sich jedenfalls schon mal freuen. Das liebe Internet verrät Bedeutung und Biografie jeder fiktiven beziehungsweise realen Figur des Stücks. Gibt man die drei Senioren, Frau Ilex und die Herren Springorum und Xylander, bei Wikipedia ein, stößt man auf eine Stechpalme, eine deutsche Unternehmerfamilie und einen Majoren aus dem 2. Weltkrieg (nebenbei bemerkt: das ist wohl mit das größte Kompliment, das man einem Theaterstück machen kann, zu Hause die Personenliste zu googeln).
Den Namen der jungen Pflegerin aber braucht man nicht nachzuschauen, den kennt man, der steht nicht weniger stellvertretend für „unsere„ Generation als Beavis oder Butthead: Zelda. Anfangs ist man sich noch unsicher, man grübelt, ist sie's wirklich? Wenn aber mitten im Stück die Nintendo-Musik ertönt, das piepsige, berühmte Thema von „The Legend of Zelda“, dann freut sich der kleine Junge im Manne, Prinzessin Zelda steht vor uns, die wir einst auf dem Super Nintendo oder dem Nintendo 64 mit Schwert und Pfeil und Bogen vor dem Bösen gerettet haben. Wer aber steht jetzt auf der Bühne, um sie zu retten? Wo ist das blonde, grünbemützte Bübchen Link? Er ist nicht da, aber das Stück ist auch keines über Helden, das ist klar. Es geht nicht um Gut und Böse, nicht um Schwarz und Weiß, sondern um die Annäherung der beiden. Man kann sagen, es geht um Grau, um das Finden von Grau.
Hat man sich in der Wikipedia erstmal festgelesen, dann kommt man nur schwerlich wieder weg. Der schöne Artikel über „The Legend of Zelda„ führt zur Namensgeberin des Spiels, Zelda Fitzgerald. Die war ein Flapper Girl, ein Flittchen in den glücklichen Golden Twenties, und keine geringere als die Ehefrau von F. Scott Fitzgerald. Der wiederum war neben Hemingway, Faulkner und anderen ein Stellvertreter der Lost Generation, wo wir dann wieder beim Thema wären.
Und genau das macht den Spaß an Lisa Danulats Stück aus, überall gibt es Symbole, Querverweise, Andeutungen, aber immer nur leise, wenn man genau hinschaut, Lust dazu hat, man bekommt nichts aufgedrängt. Das wird in Hannes Rudolphs Inszenierung mit einer Brillanz ausgeführt, die an Quentin Tarantino erinnert. Wo Tarantino aber mit all seinen Zitaten und Verweisen in seinem geliebten Film-Kosmos bleibt, streckt Danulat ihre Fühler treffsicher in alle Richtungen aus.
Weiterhin besticht die junge Autorin, Jahrgang '83, die bereits vergangene Spielzeit mit „Too low terrain“ in Mainz aufgeführt wurde, durch viel sprachlichen Witz und punktgenaue Beobachtungsgabe. Wenn Frau Ilex, die Seniorin, panisch und zerrüttet feststellt, dass ihr nur noch 100 Seiten Schwedenrätsel bleiben, versucht Zelda sie mit einer Einladung zu einem IKEA Hot Dog zu trösten.
Aber das Thema des Stücks ist eben nicht das tiefe Tal, das zwischen dem Bewusstsein der beiden Generationen klafft, sondern die eine Gemeinsamkeit, die Zelda, Frau Ilex, Herrn Springorum und Herrn Xylander miteinander verbindet, die Suche nach der eigenen Identität. Bei Zelda wird das offen zelebriert, ganz Anhängerin der exhibitionistischen Web 2.0 Generation, die jede Gefühlsregung, jeden Toilettengang bei Facebook einträgt und durch die Welt twittert. Sie stellt sich auf die Bühne und erzählt davon, wie müde sie ist, wie einsam, und dass man Selbstmord nicht so verteufeln sollte. Sie schleppt ständig eine To-Do-Liste mit sich herum, allein um etwas zu haben, dessen sie sich bewusst ist, das weniger vergänglich ist als ihre vielen One Night Stands. Später schimpft Herr Xylander sie „Generation orientierungslos„ und trifft damit den Nagel auf den Kopf.
Xylander, sicher gespielt von Ensemble-Neuling Jan-Philip Frank, schmeißt sich nach dem Ausbruch aus dem Altenheim in einen langen Ledermantel und mimt den SS-Offizier. So lange, bis er als Jahrgang '39 entlarvt wird. Seine Identitätskrise geht also so weit, dass er sich lieber in die Rolle eines Nazis begibt, als zu versuchen sich selbst zu finden. Frau Ilex sucht nach der Antwort auf die Frage, wie es war, bevor ihr Mann starb und sie einsame Witwe wurde. Und Stefan Graf wechselt am laufenden Band die Identitäten, ein Mal gibt er sogar die Jeanne Calment. Und auch ihr Bezug zum Stück wird wieder deutlich, identifiziert man sie heute doch nur über ihr Alter. Wahrscheinlich wollte sie gar nicht so alt werden, es war nicht ihr Traum, sie wird nie gesagt haben „Nimm dich in Acht, Welt, ich überlebe dich!“ Sie ist auch keine Heldin, weil sie im Alter von 85 mit dem Fechten begonnen hat - das tat sie, davon kann man ausgehen, weil man sich in 122 Jahren einfach verdammt oft langweilt.
Während des ganzen Trips, erst in ihrem Panzer, dann zu Fuß, streben die vier Figuren nach der Heimat, es ist von Anfang an ihr Ziel, am Ende sind sie dort. Diese „Heimat„, das ist nicht ihr Heimatdorf, nicht ihr Geburtshaus, nicht ein vergangenes Weihnachten, auch keine verblasste Erinnerung - das sind nur sie selbst, die Summe ihrer selbst, und die können sie nur finden, wenn sie füreinander da sind und einander helfen, jeden Altersunterschied zum Trotz.
Am klarsten wird die Bedeutung der Identitätssuche wohl dadurch, dass alle Senioren von jungen Leuten gespielt werden. Frau Ilex und Herr Springorum sogar von Schauspielstudenten, der 23-jährigen Victoria Schmidt und dem 19 Jahre alten Leonard Hohm, die beide überzeugen, Spaß am Spiel haben, den Text verstehen, den sie da sprechen. Angeführt werden sie von der versierteren Verena Bukal als Zelda, die Zugkraft sowohl der Handlung als auch der Inszenierung. Man nimmt es ihr ab, das verzweifelte junge Ding, das mit zahlreichen Kurzen in ihrem Gürtel bewaffnet ist (Kostüme: Caroline Jarczyk), bereit, alle Probleme zu ertränken.
Rudolph inszeniert gut, eine energiereiche, mit dem Text abgestimmte Choreographie, Tobias Schuncks Bühne, dominiert von dem Gefährt des Road Trips, dem Panzer, ist bunt, aber nicht überladen. „Uns kriegt ihr nicht!“ ist das beste, was die Mainzer Schauspielsparte bisher in dieser Spielzeit auf die Bühne gebracht hat. Vor allem Lisa Danulat macht Lust auf mehr:
„Wo haben Sie denn all diese seltsamen Namen her?„
„Fehlgriffe aus den Achtzigern. Wie heißen Sie denn?“
„Kevin.„
Text: Lars Reusch, Stuz - Stadt, Land, Campus, Januar 2010