Schnitt: Presse.

Das Fotoalbum - Andreas Liebmann «Schnitt»


So war die Story irgendwann vielleicht im Morgenblatt zu lesen: Junger Mann aus Stuttgart verunglückt mit dem Motorrad in Buenos Aires; und die junge Frau, vor deren Tür es geschah, bringt ihn nach Hause. Der Schweizer Autor Andreas Liebmann nutzt den Augenblick künstlerisch weit darüber hinaus – vom Lebenseinschnitt aus montiert er poetische Szenen der Erinnerung. «Schnitt», der Text zur Meldung, entstand im Rahmen des Autorenprojekts «Dramenprozessor», für das das Züricher Theater Winkelwiese, das Schlachthaus-Theater in Bern und das Theater Tuchlaube in Aarau zusammen arbeiten. Und als «Theatermaterial» firmiert die locker gefügte Szenenfolge im Untertitel. Das ist durchaus programmatisch gemeint – jede Inszenierung könnte aus diesen Texten den jeweils eigenen «Schnitt» erfinden. Und so bietet die Inszenierung auf der Probebühne am Zürcher Schauspielhaus den Anlass gleich für mehrere Entdeckungen.

Zum einen hält der Text ein erstaunlich sicheres Gleichgewicht: Hie en gros eher realistisch wirkende Motive (Pedro, der Junge aus Stuttgart, hat nach dem Tod der Mutter die Schwester und den eheflüchtigen Vater verlassen, um nach Argentinien aufzubrechen und dort den leiblichen Vater aufzuspüren), dort rätselhafte Fantasien en detail. So schiebt sich immer das Bild vom Baum ins Spiel – ein Stückchen Ast etwa drang bei einem Unfall zu Kinderzeiten in Mutters Schädel ein und wucherte dort ein Leben lang, bis Schmerz und Wahn zum Tod auf Grund dieses inoperablen Fremdkörpers führen. Mamas Mann ist auch vor der Unausweichlichkeit dieses Elends geflohen; Schwester Lotte hat mitleiden gelernt – sie wird schließlich am Krankenbett des komatösen Bruders sitzen wie zuvor bei der Mutter. Einmal aber war Pedro auf der schwierigen argentinischen Vatersuche bei einer Bildhauerin gelandet, die Bäume fertigt – Liebmann legt Spuren aus, ohne zwingend zu erklären, wohin die wohl führen könnten.

Und so schießt die Fantasie durchaus wüst und wild ins Kraut, in der Familienrückschau wie bei Pedros Sehnsuchts-Trip, der ja immerhin auch zum Abenteuer wird: mit einem Panoptikum verschiedenster Profile. Christine Rudolph kommt für die Uraufführung in Zürich mit fünf Personen aus; neben Cathérine Seifert und Tomas Flachs Nobrega, die als Bruder und Schwester fast immer bei sich bleiben, entfalten dabei Jörg Pohl und Michael Ransburg, vor allem aber Lina Beckmann ihr jeweiliges Spektrum furioser Wandlungsfähigkeit. Stets macht Rudolphs Inszenierung diesen Wandel kenntlich, und die Stationen der Geschichte, zu Beginn in Stichworten an die bühnenhohe Schultafel im Hintergrund geschrieben, werden Miniatur um Miniatur abgehakt und schließlich ausgewischt. So bleibt die Erzählung immer auch ihr eigener Kommentar – angesiedelt in einer Art lebendigem Fotoalbum.

Tobias Schuncks Bühne ähnelt als eingefriedeter Spielort einem Sandkasten ebenso wie einer aufklappbaren Zigarrenkiste voller alter Fotos. Die füllen tatsächlich zu (wahrscheinlich) Tausenden den Boden der Spiel-Kiste; und am Ende, wenn Pedro dem wirklichen Vater wohl zwar begegnet ist, die beiden einander aber nicht erkannt haben, und er danach zur Crash-Tour auf zwei Rädern aufbricht, ließe sich die Foto-Kiste auch ganz gut wieder zuklappen.

Bis zur nächsten Geschichte, deren Anfang in der Zeitung stehen könnte – Liebmann hatte ähnliche Spielprinzipien schon im Rahmen des leider viel zu kurzlebigen Theater-Experiments im mecklenburgischen Wismar ausprobiert; jetzt ergibt die Recherche in Schnipseln ein sehr starkes Stück. Und Christine Rudolph, die am Deutschen Theater in Berlin sowie an den Schauspielhäusern in Bochum und Zürich assistierte, agiert mit diesem Team kraftvoll, selbstbewusst und voll theatraler Fantasie. Da macht sich ein Talent auf den Weg.

Michael Laages / Theaterheute / Seite 43 / März 2007


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